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Ernährungstrends 2022, die ich kritisch sehe

 

 

Für 2022 sind folgende Dinge angesagt: Sneakers statt Highheels, weite Loose statt enganliegender Skinny-Jeans, Elektro- und Hybridautos statt Verbrennungsmotoren, Tiny-house statt Prachtvilla. Dass sich die Dinge ändern liegt in der Natur der Dinge und bringt meist Vorteile. 

 

Auch im Bereich Ernährung gibt es immer wieder Trends, die mehr Gesundheit und weniger Kilos versprechen. Welche Neuerungen 2022 angesagt sind und warum ich diese eher kritisch sehe, das erfahren Sie in den folgenden Zeilen.

 

1) Mahlzeitenersatz-Produkte

 

Der Markt für Mahlzeitenersatz-Produkte boomt weltweit! Es gibt Pulver, fertige Shakes und Riegel, die man im Supermarkt, Drogerien oder online kaufen kann. Vegan, Bio, ohne Zusätze. Mit Vanille-, Erdbeer- und Schoko-Keks-Geschmack.

Der Körper wird mit allen Vitaminen und Mineralstoffen versorgt, man spart Geld und Nerven für die Zubereitung. So die Werbung. 

 

Die Zielgruppe ist unterdessen nicht nur auf die Abnehmwilligen beschränkt, sondern holt auch alle Gestressten mit ins Boot. Die Vorteile liegen auf der Hand: Einkaufen, Kochen und Küche aufräumen entfallen. Eine riesige Zeitersparnis.

 

Doch wo liegen meiner Meinung nach die Haken an der Sache?

 

1. Die in einem Shake enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe orientieren sich dem Daumen nach an dem durchschnittlichen Tagesbedarf eines Erwachsenen. Dieser ist aber von zahlreichen weiteren Faktoren abhängig: Größe, Gewicht, Geschlecht, Umfang der körperlichen Tätigkeit, Stresslevel, Sonneneinstrahlung, Alter, (chronischen) Erkrankung und Medikamenteneinnahme. 

 

2. Die Gefahr einer Überdosierung von Vitaminen und Mineralstoffen ist relativ hoch, vor allem wenn man zusätzlich „normale“ Lebensmittel isst. Selbst wenn man sich ausschließlich von den Shakes/Riegeln/Pulver ernährt, kommt man je nach Sorte weit über die Soll-Dosis von manchen Inhaltsstoffen. Nicht ganz ungefährlich, denn eine stärkere Überdosierung kann zu schweren Nebenwirkungen führen. 

 

3. Gesund und ausgewogen? Immerhin, die Mahlzeiten enthalten alle wichtigen Vitamine, Mineralstoffe, genug Eiweiß und sogar Ballaststoffe. 

Sich aber nur die Makronährstoffe (Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate), Mikronährstoffe (Vitamine und Mineralstoffe) und Spurenelemente (z.B. Jod, Selen) anzusehen, ist meines Erachtens zu kurzsichtig. 

 

Schauen wir uns doch mal die Inhaltsstoffe von Obst und Gemüse an. Hier finden wir zusätzlich über hunderttausend (!) sekundäre Pflanzenstoffe. Das sind z.B. Carotinoide, Flavonoide, Monoterpene, Phenolsäuren, Saponine, Senföle usw. 

Diese besitzen eine antibakterielle, immunregulatorische und entzündungshemmende Wirkung. Außerdem schmecken und riechen sie charakteristisch, wie z.B.  Cumarin, welches süß und vanilleartig duftet.

 

Sekundäre Pflanzenstoffe mit einem Zusatznutzen sind also Fehlanzeige. Vielleicht lautet deshalb die Empfehlung (!) der Hersteller im Kleingedruckten: bitte essen Sie zusätzlich Obst und Gemüse. 

 

4. Die Produkte versprechen eine schnelle Nebenbei-Lösung. Arbeiten, Auto fahren, shoppen und nebenbei „essen“. Doch wenn man diesen Shake nicht beißen und kauen kann, was aus Zeitgründen vermutlich entfällt, dann wird der erste wichtige Schritt in Sachen Verdauung übersprungen. Denn bereits mit dem Speichel werden Verdauungsenzyme abgegeben, die Nahrung vorverdaut. Dies erspart dem Magen-Darm-Trakt ein wenig Arbeit.

 

Das bedeutet: anstatt körperlich und geistig energiegeladen und konzentriert weiterzuarbeiten, sind Magen und Darm schwer beschäftigt. Für den Kopf bleibt da wenig.

 

5. Essen ist mehr als reine Zellstoffversorgung. Was meinte ein kleiner ca. 6-jähriger Lockenkopf am Nachbartisch im letzten Südtirol-Urlaub? „Essen ist Leben!“. Dann nahm er den ersten Löffel Risotto zum Mund strahlte über beide Bäckchen und genoss das Essen mit geschlossenen Augen!

 

Damit hatte er sowas von recht! Denn neben der reinen Kalorienaufnahme zur Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen bedeutet Essen auch Genuss, Geschmackserleben, sozialer Austausch, Kultur, Freude, Pause, Entspannung und vieles mehr. 

 

Das bleibt bei fertigen Shakes, Pulvern und Riegeln auf der Strecke, auch wenn die Verpackung noch so schön ist. 

 

 

2) Snackprodukte

 

Dieses Jahr habe ich in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt und dem Amt für Ernährung in Würzburg mehrere Vorträge für junge Familien gehalten. 

 

In der Vorbereitung ist mir erst richtig bewusst geworden, wie enorm der Markt für Kinder-Snackprodukte gewachsen ist. Meine Kinder sind schon ein wenig größer und vor 20 Jahren gab es außer Kinderkeksen, die aufgrund ihrer selbstauflösenden Zusammensetzung in einer ordentlichen Schweinerei endeten, nicht viel mehr in den Regalen. 

 

Heute ist das anders, da findet man im Supermarktregal neben Quetschprodukten, Kinder-Mini-Salami, Kinder-Happy-Pizzastangen zahlreiche weitere Knusperartikel in bunten Verpackungen. Bereits Kinder werden hier zu Snackkonsumenten erzogen, aber das nur nebenbei…

 

In den Erwachsenenregalen sieht es nicht anders aus. Der Markt an Snackprodukten wächst stetig

Anlässe und Motivationen gibt es viele deutsche Verbraucher: für den kleinen Hunger zwischendurch (53%), zum Überbrücken von Mahlzeiten, zur Entspannung (30%) und Belohnung, bei Stress (27%) und aus Langeweile (22%). 

 

Manchmal habe auch ich einen Obstriegel für unvorhergesehene Pausen in der Tasche. Gerade im Sommer, wenn die Banane nach zwei Stunden im Auto fast zu Marmelade geworden ist, spricht finde ich nichts dagegen. Für geplante Büropausen oder für Wanderungen und Fahrradtouren packe ich gerne Nüsse und etwas Obst ein, um den Energielevel aufrecht zu erhalten.

 

Doch Snacks zur Entspannung, Belohnung und aus Langeweile? Das sind häufige Ess-Fallen, der Körper braucht nicht wirklich einen Energie-Nachschub. Außerdem sättigt das Nebenbei-Essen keineswegs. 

 

Hier macht es mehr Sinn, sich mit Alternativen zu beschäftigen. Um sich z.B. zu entspannen hilft auch ein gutes Buch, eine heiße Badewanne mit Lavendelduft, eine Atemübung, Yoga oder Bewegung. 

 

 

3) Proteinreiche Lebensmittel – die Extraportion Eiweiß!?

 

Mit Eiweiß angereichertes Müsli, Protein-Riegel, eiweißreiche Mehle und Nudeln sowie Protein-Pudding erzielten in den letzten vier Jahren ein durchschnittliches Umsatzplus von mehr als 60 Prozent. Vor kurzem habe ich sogar Milch und Grillsoße im Supermarkt gesehen, die zusätzlich mit Protein angereichert wurde.

 

Mehr Eiweiß, mehr Muskeln? Mehr Sättigung? Mehr purzelnde Kilos? Mehr Gesundheit? Was ist dran am Eiweiß-Wahn? Braucht es das?

 

Sehen wir uns zunächst an, welchen Nutzen Eiweiß im Körper hat und was sich hinter dem Eiweiß verbirgt:

 

Eiweiße = Proteine gehören zu den sogenannten Makronährstoffen und sind lebensnotwendig. Als Baustoffe unterstützen sie die Zell- und Gewebeerneuerung, lassen Muskeln kontrahieren, bilden Hormone und sind wichtig für unser Immunsystem.

 

Proteine setzen sich aus 20 verschiedenen Aminosäuren zusammen, die in ganz unterschiedlicher Zusammensetzung in pflanzlicher und tierischer Nahrung vorkommen. Elf Aminosäuren kann der Körper selbst herstellen, die anderen müssen tatsächlich gegessen werden.

 

Empfehlenswert sind für gesunde Jugendliche und Erwachsene unter 65 Jahren 0,8 g Eiweiß/kg Körpergewicht täglich. Das lässt sich mit einer ausgewogenen Ernährung gut erfüllen, auch wenn diese vegetarisch oder vegan ist. Und Breitensportler, die vier bis fünfmal pro Woche 30 Minuten körperliche Aktivität bei mittlerer Intensität trainieren, benötigen kein zusätzliches Eiweiß. 

 

Tierisches Eiweiß enthält ein dem Menschen ähnliches Aminosäurenprofil und besitzt eine hohe biologische Wertigkeit. Diese sagt aus, wieviel Gramm Körperprotein aus 100 g Nahrungsprotein gebildet werden können. Tierische Produkte, wie z.B. Wurst, enthalten aber sehr viel Fett, Salz und Purine. Diese können insbesondere Herz-Kreislauferkrankungen und entzündliche Erkrankungen negativ beeinflussen.

 

Pflanzliches Eiweiß findet sich in Getreide, Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen. Die Wertigkeit ist im Vergleich zu tierischem Protein nicht so hoch. Allerdings kann man diese durch die Kombination aus verschiedenen Eiweißquellen verbessern. Interessanterweise findet man solche verbesserten Eiweißkombinationen in traditionellen Gerichten, wie z.B. Linsen mit Spätzle, Bohneneintopf mit Kartoffeln und Tacos mit Bohnen.

 

Wie kommen „normale“ Lebensmittel zu mehr Protein?

 

Für Müslis werden Haferflocken durch (isolierte) Sojaproteine ausgetauscht und Mehl durch Hülsenfrüchte. Proteinriegel werden oft aus verschiedenen Eiweißen hergestellt. Milchprodukten, wie z.B. Pudding oder proteinangereicherte Milch, werden Milcheiweiß und Molkenpulver zugesetzt. Nudeln und Pseudo-Getreidemehle bestehen aus gemahlenen Hülsenfrüchten wie z.B. Linsen, Erbsen oder Sojabohnen.

 

Machen proteinangereicherte Produkte Sinn? 

 

Zunächst ist der Zusatznutzen, der mit proteinangereicherten Lebensmitteln suggeriert wird, unberechtigt. Denn in der Regel sind die Deutschen unter

65 Jahren laut der Nationalen Verzehrsstudie II ausreichend mit Protein versorgt. Eher überversorgt, vor allem mit Eiweiß aus zu viel Fleisch und Wurst. 

 

Auch der Gesundheitsaspekt ist fragwürdig. Wenn man einen Blick auf die Zutatenliste wirft, finden sich häufig eine ganze Palette unnötiger Zusatzstoffe und entweder mehr Zucker oder Fett. Die Kalorienmenge bleibt meist gleich.

 

Und was ist mit Gewichtsabnahme und Muskelzuwachs?

 

Proteinreiche Lebensmittel lassen den Blutzucker weniger stark ansteigen als Kohlenhydrate. Sie sättigen gut und minimieren Heißhunger. Keine Frage. Aber dafür braucht es keine Extraprodukte, die häufig teuer sind. Quark, naturbelassenes Fleisch guter Qualität, Bohnen und Kichererbsen tun es auch.

Und um Muskeln aufzubauen hilft (leider) nur eines, auch wenn es anstrengender ist als zu essen: mehr Bewegung

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

Buchter-Weisbrodt H: Der Apfel. Thieme Verlag, Stuttgart (1998) und Institut für Chemie und Biologie (ICB) in der ehemal. Bundesforschungsanstalt für Ernährung, Karlsruhe o.J.

 

https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/chemie/inhaltsstoffe/pflanzeninhaltsstoffe/index.htm

 

Hans Konrad Biesalski, Matthias Pirlich et al. (2018): Ernährungsmedizin, Georg Thieme Verlag: Stuttgart/New York.

 

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1246311/umfrage/motivation-zum-verzehrs-von-snacks/

 

MRI (Max Rubner-Institut) (Hrsg.): Nationale Verzehrsstudie II. Ergebnisbericht, Teil 2, Karlsruhe (2008)